Deutsche Weinstraße
Es ist schwer zu sagen, was den Reiz der Deutschen Weinstraße ausmacht: Ist es das mediterrane Flair in dieser südwestlichen Ecke Deutschlands, wo 1800 Sonnenstunden im Jahr sogar Feigen, Kiwis und Zitronen reifen lassen und die zartrosa Blüten der Mandelbäume oft schon im März Frühlingsfreude wecken? Oder ist es die Nachbarschaft zu Frankreich, die dafür sorgt, dass das typische “savoir vivre”, die Lebenslust und die Genussfreude, hier besonders ausgeprägt sind? Oder ist es die ereignispralle Geschichte, auf deren steinerne Zeugnisse - Reste römischer Siedlungen, Burgruinen, Schlösser und Schlösschen - der Besucher auf Schritt und Tritt stößt? Oder vielleicht der Zauber der malerisch-verträumten Winzerdörfer mit ihren rebenumkränzten Straßen, der Liebreiz der sanft-hügeligen Weinbergslandschaft?
Der Schöpfer, so viel ist klar, hat es gut gemeint mit diesem Landstrich. Das bestätigen Jahr für Jahr Hunderttausende, die die “Weinpfalz” als Ziel für einen Tagesausflug, einen kurzen oder längeren Urlaub wählen. Und die Frage, ob das milde Klima, die angenehme Lebensart, die pfälzische Landschaft oder die reiche Historie sie hierher gezogen haben, ist angesichts dieser Abstimmung mit den Füßen ein eher trockener, fast schon abseitiger Streit.
Zumal zwei Dinge, die Deutsche Weinstraße in der Pfalz so attraktiv machen, dabei noch gar nicht recht berücksichtigt sind: die Menschen mit ihrer freundlichen und liebenswert-offenen Art, und natürlich der Wein, der seit Jahrtausenden Kapital und Lebensnerv der Region ist. Die Weinrebe hat im Oberrheintal einen ihrer natürlichen Ursprungsorte, und noch heute wachsen im Auwald an einigen Stellen Wildreben. Der sich daraus entwickelnde Weinbau hat die Kulturlandschaft links des Flusses geprägt, das Erscheinungsbild der pfälzischen Landschaft geformt, das Aussehen der Siedlungen beeinflusst - und bildet heute den wesentlichen Wirtschaftszweig am Rand des Haardt-Gebirges.
In der Vergangenheit hat das zweitgrößte deutsche Weinbaugebiet, das sich entlang der Deutschen Weinstraße erstreckt, mit einer Fülle von Missverständnissen zu kämpfen gehabt, doch inzwischen bröckeln viele Klischees. Spitzen-Weingüter und -Winzergenossenschaften, Sterneköche und unzählige Initiativen für die Weinkultur jenseits des Schoppen-Maßes schlagen neue Töne an und finden damit weit über die Landesgrenzen hinaus Gehör. Sicher ist die Weinstraße auch Heimstatt bodenständiger Schoppengemütlichkeit, doch längst kommen neben den Freunden des Volkstümlichen auch die Liebhaber erlesenen Weingenusses auf ihre Kosten - am passenden Ambiente fehlt es wahrlich nicht. Sicher sind in der Pfalz eher deftige Genüsse zuhause; doch längst haben sich in der Umgebung der Weinstraße Meisterköche etabliert, die die Landkarte der “Weinpfalz” mit Sternen und Mützen schmücken - und häufig aus Pfälzer Spezialitäten wie dem Saumagen kleine Köstlichkeiten zaubern.
Sicher wird entlang der Weinstraße auch lieblicher Wein hergestellt, doch längst nicht mehr soviel wie früher: Etwa die Hälfte der Produkte aus dem Anbaugebiet werden inzwischen trocken oder halbtrocken ausgebaut, Tendenz steigend. So ist das mit den Vorurteilen - in den Köpfen mancher Menschen hängt noch das Bild der gemütlich-schunkelnden Weinprovinz, während eine stets wachsende Zahl von Spitzenerzeugern mit ihren Weinen und Winzersekten national und international immer mehr Beachtung findet und einen Preis nach dem anderen in die Pfalz holt.
Wer Pfalz sagt, meint häufig Deutsche Weinstraße, denn die 85 Kilometer lange Strecke ist nicht nur die erste und bekannteste Weintouristik-Route der Welt, sondern auch das Rückgrat des Weinbaugebiets. Was 1935 aus der Not geboren wurde, hat inzwischen in vielen Weinregionen auf der Welt Nachahmer gefunden - und jede neue Weinstraße im In- und Ausland erachten die Pfälzer großzügig als spätes Kompliment.
Weintourismus war das Ziel bei der Gründung - und daran hat sich auch nach mehr als 60 Jahren nichts geändert. Die Gemeinden und Kreise entlang der Deutschen Weinstraße wissen, dass sie sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen können und versuchen stets, die Ferienroute am Haardtrand noch attraktiver und interessanter zu machen. Seit langem schon gibt es mit dem etwa 100 Kilometer langen Wanderweg Deutsche Weinstraße die Möglichkeit, die Schönheiten des Landstrichs in Ruhe zu erkunden und fernab von Alltagsstress und Autolärm mit Land und Leuten in Kontakt zu kommen. Die Radfahrer kommen alljährlich am Erlebnistag Deutsche Weinstraße, der immer am letzten Sonntag im August stattfindet, auf ihre Kosten. Dann ist die Weinstraße für den motorisierten Verkehr gesperrt. Winzer öffnen ihre Höfe, Vereine, Verbände und andere Organisationen schlagen Stände auf und verwandeln die Ferienroute in einen 85 Kilometer langen Vergnügungspark für 300.000 bis 400.000 Besucher.
Zum Deutschen Weintor in Schweigen, das schon in den dreißiger Jahren entstand und seither einen Anfangspunkt der Straße markiert, ist 1995 als Pendant im Leininger Land das “Haus der Deutschen Weinstraße” in Bockenheim hinzugekommen. Die Deutsche Weinstraße hat seither einen Rahmen, einen Anfang und ein Ende - wo er seine Weinreise beginnt, bleibt dem Besucher überlassen.
Entscheidungsschwache können sogar nördlich von Bockenheim starten - und sich doch an der Weinstraße fühlen. Denn das beschauliche Zellertal, der nordwestliche Zipfel des Weinbaugebiets Pfalz, wirbt ganz selbstbewusst damit, das “i-Tüpfelchen” (auf) der Deutschen Weinstraße zu sein. Wer also einen Abstecher in die sanft-hügelige Weinbergslandschaft bei Zell oder Einselthum macht, muss sich nicht wundern, wenn er überall auf das Motto der Weinbauregion trifft: “Zum Wohl. Die Pfalz.” heißt der Slogan, der mit zwei aneinander stoßenden Gläsern bebildert ist und einlädt zur Entdeckungsreise im Land der Reben.
Die geht nun nach Süden, vorbei am neuen “Haus der Deutschen Weinstraße”, hinein in den traditionsreichen Weinort Bockenheim, der nicht nur alljährlich mit einem Wettstreit der Mundartdichter von sich reden macht, sondern mit der ehemaligen Wehrkirche, der Emichsburg, auch eine besondere Sehenswürdigkeit beherbergt. Grünstadt, die Residenz der ehemaligen Grafen von Leinigen, lockt als Herz des sogenannten Leiningelandes mit einer schmucken Fußgängerzone. Neu- und Altleiningen mit ihren pittoresken alten Burgen sind von hier nicht weit, ebenso Battenberg.
Wer dem Weinstraßen-Signet folgt, gelangt nach Kirchheim mit seinem sehenswert geschlossenen Ortskern. Herxheim am Berg wird geprägt von ehemaligen Herrschaftshäusern, Dackenheim begeistert Kunstfreunde durch sein romanisches Gotteshaus mit schönen Steinmetzarbeiten. Kallstadt bietet nicht nur die passende Weinbergslage zum pfälzischen Nationalgericht, dem Saumagen, sondern auch hübsche Fachwerkhäuser. Tief ins Mittelalter wird der Besucher in Freinsheim mit seinem Stadtmauerring und einer Fülle alter Gebäude versetzt. Im benachbarten Ungstein, das heute zu Bad Dürkheim gehört, wird sogar eine noch frühere Epoche lebendig: Das römische Weingut am Weilberg mit dem antiken Kelterhaus erinnert wie die römische Villa in Wachenheim, ein spätrömischer Burgus in Ungstein und der Steinbruch “Kriemhildenstuhl” nahe Bad Dürkheim an die Römerzeit in der Pfalz und damit an die Anfänge des Weinbaus.
An diesen Resten einer früheren Weinbaukultur, denen Interessierte auf einem Römer-Rundwanderweg nachspüren können, fasziniert das Alter; beim Riesenfass in Bad Dürkheim, einer der Anziehungspunkte des eleganten Kurortes, die schiere Größe. 1,7 Millionen Liter Wein passen in das größte Weinfass der Welt, erprobt wurde das indes nie; denn das Behältnis mit XXL-Maßen dient als Gaststätte, die allerdings ebenfalls Übermengen fasst: 650 Personen finden Platz. Die Vergangenheit ist aber auch in dem geschäftigen Staatsbad, in dem im Herbst das größte Weinfest der Welt, der Wurstmarkt, stattfindet, gegenwärtig: Die Ruine der Limburg, dem Hauskloster der Salier, thront auf einem schmalen Höhenzug über der Stadt. Der Legende nach wurde der Grundstein für das Kloster gleichzeitig mit dem des Domes in Speyer gelegt. Das eindrucksvolle Gemäuer dient heute als stimmungsvolle Kulisse für Theateraufführungen und andere Sommer-Vergnügen.
Südlich von Bad Dürkheim heißen drei pfälzische Wein-Berühmtheiten den Besucher willkommen: Wachenheim, Forst und Deidesheim sind für ihre Rieslinge weltbekannt. Während am Haardtrand die Wachtenburg, die Hausburg Wachenheims, die Perlenkette der Baudenkmäler fortsetzt, begeistern die drei Orte mit ebenso großen wie renommierten Weingütern. Forsts alte Hauptstraße mit ihren eindrucksvollen Winzerhöfen ist inzwischen vom Durchgangsverkehr befreit, während sich die Autos in Wachenheim noch durch den engen Ortskern zwängen. Deidesheim, das in den vergangenen Jahren von vielen führenden Politikern der Welt besucht wurde, beherbergt im historischen Rathaus ein Museum für Weinkultur und bietet auch sonst viel Sehens- und Erlebenswertes.
Mußbach gehört wie Königsbach, Gimmeldingen, Haardt, Hambach und Diedesfeld inzwischen zu Neustadt, doch Weinkenner wissen, mit welchen Perlen sich die größte Weinbaugemeinde Deutschlands hier schmückt. Die Stadt selbst, im Zentrum der Weinstraße gelegen, hat ihre gut erhaltene Altstadt in den vergangenen Jahren liebevoll saniert und bezieht ihren eigentlichen Reiz aus der Verbindung von städtischer Lebendigkeit und dörflicher Beschaulichkeit. Das Hambacher Schloß, seit dem Hambacher Fest von 1832 als “Wiege der deutschen Demokratie” bekannt, liegt geradezu aufreizend schön und weithin sichtbar vor den Toren der Stadt.
Zahlreiche Villen und große Weingüter prägen das Ortsbild von Maikammer, wenige Kilometer südlich von Neustadt. Zum Gebirgsrand hin schließt sich St. Martin an, dessen Ortskern mit seinen gut restaurierten Adelshöfen und den Wohnhäusern mit Heiligennischen zu den schönsten an der Weinstraße zählt. Das Dorf schmiegt sich in einen Taleinschnitt, darüber thront die Kropsburg, die auf eine Anlage der Bischöfe von Speyer zurückgeht.
Die Villa Ludwigshöhe ist Edenkobens Vorzeige-Stück. Wie ein Aussichtsbalkon liegt die ehemalige Sommerresidenz der Wittelsbacher inmitten von Wald und Weinbergen. Auf eine Gartenanlage soll Ludwig I. bewusst verzichtet haben: die anmutige Landschaft in der “schönsten Quadratmeile” seines Reiches hielt er auch ohne Zutun der Gartenkünstler für reizvoll genug. In dem repräsentativen Königsbau, der seit 1975 dem Land Rheinland-Pfalz gehört, sind Gemälde des Impressionisten Max Slevogt zu sehen. Gewissermaßen das Pendant zum Dürkheimer Riesenfass liegt in Edenkoben im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Heilsbruck unter der Erde: der größte Holzfasskeller Deutschlands mit einem Fassungsvermögen von mehr als 400.000 Litern.
Nahe der Villa Ludwigshöhe startet in den Sommermonaten die Rietburgbahn. Die Sessellifte bringen Erlebnishungrige in wenigen Minuten zur Rietburg, die in 544 Meter Höhe liegt und einen herrlichen Ausblick in die Rheinebene bietet. Das nahe Örtchen Rhodt unter Rietburg glänzt mit einem weiteren Pfälzer Superlativ: Der 300 Jahre alte Traminer-Weinberg ist der älteste bewirtschaftete Weinberg Europas. Die teilweise mit Kastanienbäumen bestandene Theresienstraße mit ihren malerisch-verträumten, rebenumrankten Winzerhäusern gilt vielen aufgrund ihrer Einheitlichkeit als schönste Dorfstraße weit und breit. Die wenigsten wissen indes, dass die Pfälzer diesen Reichtum an historischer Bausubstanz den Badenern oder Württembergern zu verdanken haben: Das Dörfchen zählte nämlich jahrhundertelang nicht zur Pfalz, sondern war württembergisch oder badisch - und blieb deshalb von den Zerstörungen des pfälzischen Erbfolgekrieges weitgehend verschont.
Edesheim mit seinem neu herausgeputzten Wasserschloss, Hainfeld, Burrweiler, Gleisweiler (im subtropischen Park gedeihen Pflanzen, die sich sonst in Deutschland nur noch auf der Insel Mainau finden), Frankweiler, Siebeldingen und Birkweiler sind weitere Stationen am Weg - hübsche, beschauliche Weinbaugemeinden mit reichlich Geschichte, vielen Geschichten und großem Erholungswert. Die Festungsstadt Landau, wenige Kilometer von der Weinstraße entfernt, ist heute der wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt der Südpfalz.
Dem nahen Ranschbach, ein beschauliches Dörfchen mit einigen hundert Einwohnern an der Weinstraße, galt Anfang der achtziger Jahre urplötzlich das Interesse von Zeitungs- und Rundfunkleuten aus aller Welt: Nach einer angeblichen Wunderheilung suchten Tausende eine kleine Quelle westlich des Ortes auf. Der Strom der Heilungssuchenden ist inzwischen längst versiegt, und Ranschbach liegt wieder im Dörnröschenschlaf. Leinsweiler dagegen zieht noch immer Kunstinteressierte aus aller Welt an: der Slevogthof, Sommersitz des berühmten Malers von 1914 bis 1932, schmiegt sich oberhalb des Ortes an den Hang und fällt durch seinen markanten Turm schon von weitem ins Auge.
Das Mittelalter wird an diesem südlichen Stück der Weinstraße, im Vorfeld der Reichsfesten Trifels, Anebos und Münz, lebendig wie selten, denn hier glänzen einige Perlen in der Kette der Burgen am Haardtrand. Als erste stimmt die größtenteils zerstörte Ruine Neukastell oberhalb des Slevogthofs auf diesen südpfälzischen Burgenzauber ein; eindrucksvoller stellt sich die Ruine der Madenburg dar, eine langgestreckte Anlage mit Haupt- und Vorburg. Die wenigen Reste der Burgen Heidenschuh und Schlössl bei Klingenmünster geben Stoff für Ruinen-Romantik, während Burg Landeck mit ihrer dicken Ringmauer und dem mächtigen Bergfried auch den weniger Phantasiebegabten Stein für Stein mittelalterliche Wehrhaftigkeit demonstriert.
Durch Gleiszellen-Gleishorbach und Pleisweiler-Oberhofen führt die Weinstraße nach Bad Bergzabern, dem südlichen Pendant zum Staatsbad Bad Dürkheim im Norden. Das ehemalige Schloss der Herzöge von Pfalz-Zweibrücken und schöne Patrizierhäuser prägen das Örtchen, dessen Bewohner noch bis 1908 eine besondere Jagdleidenschaft hatten: Mit Blasrohren stellte man den “Bohämmern” nach, einer Finkenart.
In einem Taleinschnitt westlich der Weinstraße versteckt sich Dörrenbach, ein Kleinod mit Renaissance-Rathaus und vielen Fachwerkhäusern. Durch Oberotterbach und Rechtenbach geht es weiter nach Schweigen, wo das Weintor am Südzipfel der Weinstraße einen markanten Schlussstein setzt. Wer noch immer nicht genug über die Pfalz und ihr bestes Stück, den Wein, erfahren hat, kann über den Ersten Deutschen Weinlehrpfad spazieren, oder einfach kehrtmachen. Er kann aber auch auf der anderen Seite des Bauwerks seine Weinreise im Elsaß fortsetzen. Das Tor jedenfalls ist nach beiden Seiten offen, und sogar auf pfälzischen Wein wird der Reisende in Frankreich noch treffen. Denn die südlichsten Rebflächen an der Deutschen Weinstraße liegen jenseits des Schlagbaums.
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